Lieber Michael,
für mich wird es nun schwieriger, Dir zu antworten, und ich weiß nicht mal so recht warum! Ich benötige Unmengen an Papier, zig Anläufe. Mein Mann fragt mich was ich denn da ständig schreibe, ich erkläre ihm mit vielen Worten so wenig wie möglich. Erkläre ihm den Zusammenhang zwischen Magen, Darm und den Gedanken und Gefühlen. Seine Antwort: Ärzte hätten unter anderem auch schon herausgefunden, dass es mit Psychopharmaka möglich sei, solche "Krankheiten" zu heilen. Ehrlich, ich liebe ihn!
Ich habe mir den Kopfhörer geschnappt, die Musik aufgedreht und ihn ziemlich verwirrt und ratlos einfach sitzen lassen.
Um ein wenig ruhiger zu werden, versuche ich zu meditieren – das Resultat ist, ich breche in Tränen aus. Ich hoffe, ich kann Dir dennoch einingermaßen sachlich antworten.
Du schreibst, Du würdest keines der Ziele erfüllen, die ich aufgeschrieben habe. Ich auch nicht; nicht eins davon. Es sind doch Ziele, keine Gegebenheiten!
Die Frage, ob sie für mich zu hochgesteckt sind, habe ich mir noch nie gestellt. Ich sehe aber, dass ich elendig weit davon entfernt bin, sie auch nur annähernd zu erreichen. Das macht es natürlich nicht gerade angenehmer, und die Gefahr, sich selbst anzulügen, ist dabei riesig groß. Ich hoffe nur, ich belüge mich nicht allzu sehr, ohne es zu bemerken.
Ich will keine Heilige werden, ich will gar nichts Besonderes werden, und ich mag auch nicht vor anderen glänzen oder besonders edel, hilfreich und gut sein.
Ich möchte mich nicht überfordern, aber das alles ist ein "Selbstläufer".
Hat man erst mal begonnen, bewusst zu schauen, nicht wegzusehen und einzelne tägliche Begebenheiten/Situationen bewusster wahrzunehmen, dann sieht man so vieles. Das beginnt im Umgang mit den Menschen und endet nicht mal bei der Gartenarbeit.
Überall lebt es, und man verletzt ständig; Menschen, Tiere, Pflanzen. Unkraut muss ausgerissen werden. Lasse ich es drin habe ich keine Ernte - also weg damit. Winden zum Beispiel; Michael, hast Du schon beobachtet wie "klein" sie sich machen, wenn man sie immer wieder rausreißt? Sie ducken sich ganz eng an den Erdboden beim Wieder-Wachsen; manchmal blühen sie schon, kaum dass sie aus der Erde herausschauen. Sie alle kämpfen um ihr Leben - und ich fege durch den Garten wie ein Tornado und hinterlasse Trümmer.
Oder wir sitzen mit Freunden im Garten. Ich sehe wie die Interessen und Bedürfnisse miteinander kollidieren; nicht nur unter den Menschen. Eine Freundin hat Panik vor allem was kreucht und fleucht – sie versucht alles Kleingetier zu erschlagen, sobald es ihr zu nahekommt. Alles was da krabbelt und fliegt verliert sein Leben, beim Versuch, an Fleisch oder Kuchen in ihrer Nähe zu kommen.
Das ist ein ungerechtes, unschönes Spiel. Ich mag da nicht mitspielen. Nun bin ich wieder abgeschweift. Es fällt mir wirklich schwer, direkter auf deine Antworten einzugehen. Das alles ist für mich sehr komplex und nicht leicht, geradlinig zu erklären – und wahrscheinlich ist mein Verhalten ziemlich lächerlich.
Liebe Grüße von Lotte
Liebe Lotte,
damit es zu keinem Missverständnis zwischen uns kommt: Du musst mir nicht „antworten“. Das Gespräch soll dazu dienen, dass Du Dich in Deinem Körper wieder wohler fühlen kannst – und nicht meiner Neugier.
Je weiter wir uns von den Clostridien entfernen, desto komplexer und schwieriger wird natürlich die Welt . Deshalb konzentriert sich ja die Medizin auf messbare „Werte“ und Laboruntersuchungen. Die moderne Schulmedizin ist eben eine männliche Welt, die im „Bekämpfen“ ihre Aufgabe sieht, während „Heilen“, im ursprünglichen Sinn, eine weibliche Welt war und ist.
Nach dem Psychopharmaka-Hinweis Deines Mannes, ist seine Zugehörigkeit zur männlichen Welt (nicht nur der physischen ) deutlich. Das hat vermutlich Auswirkungen auf Dich.
Die Welt ist, wie sie ist. Das Klagen darüber, wie sie ist, ist Anklage an dem/der, der/die sie eingerichtet hat. Das tun viele, scheint mir aber nicht sinnvoll.
Der Tod ist Bestandteil des Lebens (auch wenn es wie eine Floskel klingt). Fische fressen Algen (obwohl die wahrscheinlich auch leben wollen), große Fische fressen kleine Fische, Menschen essen große und kleine Fische und so weiter. Jedes Lebewesen wird in (s)eine Umwelt geboren, die aus Werden und Vergehen besteht.
Wenn ich zu Krokodilen ins Wasser steige, muss ich damit rechnen, gefressen zu werden. Wenn sich eine Wespe auf den Apfel stürzt, den ich gerade essen will, werde ich sie nachdrücklich vertreiben. Wenn ich in meinem Garten alles einfach wachsen lasse, dann habe ich nur noch die stärksten Pflanzen, wie Löwenzahn, Huflattich und Brennnesseln. Will ich auch Rosen haben, Anemonen und Lilien, muss ich sie "verteidigen". Wicken wachsen am Zaun; wenn sie den ganzen Garten wollen, dann reduziere ich sie.
In diesem Dschungel ein Mensch zu sein, der sich nicht allzu oft seiner Taten schämen muss, halte ich schon für ein ehrgeiziges Ziel.
An Deinem Verhalten ist nichts lächerlich, es ist sehr weiblich. Frauen haben aus guten Gründen eine höhere Sensibilität als Männer, sonst könnten sie ihre Rolle als Lebens-Bewahrerinnen nicht spielen!
Liebe Grüße, Michael
Lieber Michael,
nein, da gibt es kein Missverständnis. Ich antworte Dir gerne und freiwillig. Dass es mir mitunter schwerfällt, liegt daran, dass es schmerzhaft ist, lange in mir verschlossene Dinge offen zu legen. Vermutlich ist aber genau das nötig, um einen klaren Blick zu bekommen.
Du bist sehr gut darin, mich wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Auf eine sehr liebe und verständnisvolle Art übrigens.
Du schreibst:
Nach dem Psychopharmaka-Hinweis Deines Mannes, ist seine Zugehörigkeit zur männlichen Welt (nicht nur der physischen ) deutlich. Das hat vermutlich Auswirkungen auf Dich.
Wie meinst Du das? Was für Auswirkungen?
Ich wünsche Dir einen schönen Winternachmittag und Abend, Lotte
Liebe Lotte,
bei dieser Passage von Dir:
Mein Mann fragt mich, was ich denn da ständig schreibe; ich erkläre ihm mit viel Worten so wenig wie möglich. Erkläre ihm den Zusammenhang zwischen Magen, Darm und den Gedanken und Gefühlen. Seine Antwort: Ärzte hätten unter anderem auch schon herausgefunden, dass es mit Psychopharmaka möglich sei, solche Krankheiten" zu heilen. Ehrlich, ich liebe ihn! Ich habe mir den Kopfhörer geschnappt und die Musik aufgedreht, ihn ziemlich verwirrt und ratlos sitzenlassen.
Um ein wenig ruhiger zu werden, versuche ich, zu meditieren – das Resultat ist: Ich breche in Tränen aus.
und einer – wie es mir schien – praktischen Empfehlung von Psychopharmaka für Dich, fragte ich mich, wie das auf Dich wirkt. Deine „Liebeserklärung“ in dem Zusammenhang konnte ich nur als Ironie wahrnehmen. Deine Tränen danach dürften auch keine Freudentränen gewesen sein.
Liebe Grüße, Michael
Lieber Michael,
diese Passage – so wie es sich liest hatte ich das eigentlich nicht schreiben wollen. Meine Tränen habe ich überhaupt nicht auf das bezogen, was mein Mann zu mir sagte, sondern darauf, dass ich im Moment einfach durcheinander bin.
Ich habe nichts gefühlt, als er das zu mir sagte; nichts, außer dem Drang mich irgendwie sofort da "auszuklinken".
Heute Nacht aber habe ich von ihm geträumt. An die genaue Handlung kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch gut, wie sehr wütend ich auf ihn war – die Wut hielt noch länger nach dem Aufwachen an.
Michael, kann man, auch wenn man sonst so sehr darauf achtet, bewusst alles wahrzunehmen, kann man da trotzdem manches überhaupt nicht bemerken - so eine Art "blinden Fleck" haben?
Seltsam ist doch auch: Sonst tut mir jede Kleinigkeit sofort weh, spüre ich selbst dann alle Misstöne, wenn sie mir gar nicht gelten. Aber hier – nichts! Warum habe ich nichts gespürt, als er das zu mir gesagt hat? Heißt das, es macht mir nichts aus? Aber warum dann die Tränen und diese Wut in meinem Traum?
Liebe Grüße, Lotte
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