Zum Glück waren die Kinder bereits erwachsen und lebten weitestgehend ihr eigenes Leben. Trotzdem begannen sich im kompletten Familiengefüge Risse zu zeigen. Auslöser dafür waren auch Veränderungen in meinem Verhalten, die sowohl für meinen Mann als auch die Kinder ungewohnt waren. Es fing schon damit an, dass ich nicht mehr ständig zuhause und verfügbar war. Niemand hatte diese ständige Verfügbarkeit von mir gefordert. Es hatte sich im Laufe der Jahre so gefügt. Nicht zuletzt darum, weil ich es aktiv so gelebt hatte. Mir war stets wichtig gewesen, ganz für meine Familie, für meine Kinder da zu sein und ihnen alles zu geben, was ich zu geben hatte. Kein Wunder also, dass die für sie so plötzlich auftretenden Veränderungen auf Unverständnis stießen und weitere Spannungen verursachte. An manchen Tagen kam ich mit der stark angespannten Situation ganz gut zurecht. An anderen hielt ich es kaum aus und flüchtete zu „meinem“ Baum oder zog mit dem Fotoapparat los, um an meinem Heimatbuch-Projekt zu arbeiten.
Ja, das Projekt! Das war etwas gänzlich Neues in meinem Leben. Noch immer überkamen mich Zweifel ob ich so etwas überhaupt hinbekommen würde. Doch die schob ich rasch beiseite, sobald sie auftauchten. Schließlich war alles freiwillig und ich hatte keinerlei Leistungsdruck. Diese Tatsache half mir das Ganze mehr als Spiel zu betrachten und ich gewann mehr und mehr Freude daran. Dabei lockte mich weniger das Ziel, denn so recht konnte ich mir das fertige Buch nicht vorstellen. Es war das Tun, das ich zu lieben begann.
Ich stand mit den Amseln auf, um Morgennebel und Tautropfen zu fotografieren, die sich über Nacht auf Blüten und Blättern niedergelassen hatten. Ich war draußen, wenn erste zarte Schimmer den Horizont färbten und spürte diese besondere Energie eines erwachenden Tages; neu, frisch und prickelnd. Ich war draußen, wenn sich Gewitter ankündigten, Wolken über den Himmel stürmten und die Luft um mich herum vibrierte. Was für riesige Kräfte konnte ich da spüren! Es waren Glücksmomente für mich, barfuß über Wiesen zu laufen oder im Zeitlupentempo an eine Eidechse heran zu robben, bis ich ihr ganz nah war, um sie dann zu fotografieren. Ich fühlte mich frei und atmete auf, wenn ich bei „meinem Baum“ den Sonnenuntergang bestaunte.
In diesen Momenten schien sich ein feiner Zauber über alles zu legen. Manchmal versuchte ich mein Empfinden dieser Augenblicke in Worte zu fassen. Überhaupt schrieb ich während dieser Zeit des Umbruchs viele Texte und Gedichte. Sie waren ein Ventil und halfen, all die überquellenden und manchmal in mir festsitzenden Gefühle zum Fließen zu bringen.
Eines der vorherrschenden Gefühle war Trauer. Und ich begann Sehnsucht zu spüren. Tief und heiß zog sie mir durch Herz und Kehle. Da stand ich dann, mit dieser Mischung aus Traurigkeit und brennender Sehnsucht, irgendwo im Wald, unter einem Baum oder auf einer Wiese.
„Hilf mir! Was ist das, das so in mir brennt? Wonach sehne ich mich denn, und was soll ich tun? Wer auch immer du bist, der das nun hört - bitte hilf mir.“
Ich wusste nicht, wen ich da so flehentlich bat. Gott? Meine Seele oder irgendein „Schicksal“? Ich rief meine Sehnsucht laut in den Wind und wünschte mir, er würde sie mitnehmen, nach dort, wo es eine Antwort darauf gab.
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