Das viele Draußen-Sein in Sonne, Wind und frischer Luft stärkte meinen Körper und tat meiner Seele gut. Trotz meines hin und her Schwankens fühlte ich mich so viel lebendiger als noch vor wenigen Monaten.
„Lass los, lass Dich fallen, lass Deine Seele fliegen!“
Diese Worte begleiteten mich an federleichten Tagen und auch sehr durch schwierige Tiefs. Michael hatte sie mir geschrieben und sie wurden zu einem wichtigen Anker für mich.
Von Michael kam auch der Tipp, „Männer“ – und natürlich explizit auch meinen Ehemann - doch einmal unter einem etwas anderen Aspekt zu betrachten.
„Stell Dir vor, Du seiest eine Ethnologin und würdest eine unbekannte "Spezies" erforschen wollen.“
Ein mir sehr ungewohnter Ansatz, der aus der ganzen Sache ein wenig Ernst herausnahm - und an dessen Stelle einen spielerischen Umgang hineinbrachte. Was mir spürbar gut tat. Mit diesem Rollenspiel gewann ich augenblicklich etwas Abstand und konnte einzelne Situationen beobachten, anstatt mich darin zu verlieren. Zudem wurde das Ganze auf diese Weise auch interessant. In mir war der Forschergeist geweckt.
Mit dem so gewonnenen Abstand erkannte ich auch, dass ich mir selbst das Leben „erschaffen“ hatte, in dem ich mich nun eingesperrt fühlte. Tiefe Unsicherheit und Angst vor dem Leben „da draußen“, aber auch ein guter Schuss Bequemlichkeit und meine große Empfindlichkeit hatten mich veranlasst, mich völlig zurück zu ziehen und ein „eigenes Leben“ außerhalb meiner Familie immer mehr zu vernachlässigen. Auf diese Weise wurde ich - nicht nur finanziell - von meinem Mann abhängig; was wiederum mein sowieso schon geringes Selbstbewusstsein noch mehr schwächte. Mir war nun klar: Selbst wenn ich wollte, so könnte ich jetzt gar nicht "ausbrechen". Doch um ein eventuelles Ausbrechen ging es mir im Moment gar nicht. Was ich wollte, war, frei darüber entscheiden zu können, was ich tun will. Meine Ängste und Abhängigkeiten verwehrten mir diese Freiheit. Ich wollte nicht in einer Beziehung leben und ausharren „müssen“, nur weil ich mich aufgrund vermeintlicher Defizite meinerseits darin festgebunden sah.
Eines Nachts war ich von einem Moment auf den anderen hellwach und spürte mein Herz pochen. In mir hallte ein Gedanke nach. „Ich will ein paar Tage wegfahren! Ans Wasser!“
In meiner realen Wach-Welt hatte ich über viele Jahre eine Menge Ängste aufgesammelt und traute mich nun kaum noch etwas. Verreist war ich schon sehr lange nicht mehr; auch nicht mit meinem Mann gemeinsam. Nun deckte ich eine weitere Selbstlüge auf. Jahre, eher Jahrzehnte lang hatte ich mir beteuert, ich würde mir nichts daraus machen zu verreisen und würde mein Zuhause-Sein genießen. Ich machte mir vor, ich wolle nicht wegfahren – und jetzt entdeckte ich, dass ich viel mehr das Gefühl hatte, „es nicht zu können“. Natürlich gab es da auch die körperlichen Schwierigkeiten, die ich als Begründung anführen konnte.
Nun allein ein paar Tage zu verreisen war also tatsächlich ein kühner Gedanke. Weitere gesellten sich dazu. Wollte ich denn nicht Freiheit? Und wollte ich mich denn nicht aus meinem inneren Gefängnis befreien? Wenn das nicht alles nur Lippenbekenntnisse bleiben sollten, musste ich etwas tun! Und ja, ich wollte etwas tun! Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ein Hauch von Freiheit und Abenteuer lag in der Luft.
Ich besprach mich mit Michael. Wohin sollte die Reise gehen, wie lange, was konnte ich mir zutrauen und wo würde ich mich überfordern? Schon bei der Planung fühlte ich mich überfordert. Autofahren war kein Problem, doch nur auf mir bekannten Strecken. Mein Bewegungsradius war auf die kleine Stadt beschränkt, in der wir wohnten. Straßenkarten konnte ich nicht lesen und mein Orientierungssinn verdiente es nicht, auch nur erwähnt zu werden. Nach etlichen Überlegungen aber schälte sich doch ein Ziel heraus: Die Insel Reichenau am Bodensee. Die Strecke dorthin war zeitlich zu bewältigen und das Ziel recht leicht anzusteuern. Für mich natürlich dennoch eine Riesenherausforderung. Je konkreter die Reisepläne wurden, desto höher erschienen mir die Hürden. Kurioserweise wollte ich aber kein Quartier vorbuchen, sondern mir etwas direkt vor Ort suchen. Denn das war für mich der Inbegriff von Freiheit! Und wenn ich schon fuhr, dann sollte es auf diese Weise sein!
Als klar war, dass ich es wirklich wagen wollte, sprach ich mit meinem Mann darüber. Er verstand meinen Wunsch zwar nicht – schließlich hatte ich jahrelang gemeinsame Reisen vermieden – sagte aber auch nichts dagegen. Da ich das gemeinsame Auto nehmen wollte, suchten wir einen passenden Zeitraum, in dem er es nicht benötigte. Schließlich war auch das geklärt und es stand fest:
Ich würde in ein paar Tagen für eine Woche auf die Insel Reichenau fahren!
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