Liebe Lotte,
ich hoffe, dass Du eine gute Nacht ins neue Jahr hattest. Bei mir wurde etwas länger gefeiert, deshalb war die Nacht ein wenig kurz, der Schlaf aber tief.
Ich empfinde Deine Offenheit nicht als Last, sondern als Ausdruck Deines Vertrauens, und das freut und ehrt mich.
Deine Ziele klingen so, als hättest Du vor, eine Heilige zu werden.
Aber dazu schreibe ich Dir, wenn ich mehr Zeit und wieder einen klaren Kopf habe.
Liebe Grüße, Michael
Mehr Zeit und einen ausreichend klaren Kopf hatte Michael schon am späten Nachmittag desselben Tages.
Liebe Lotte,
wie ich Dir schon schrieb, mit solchen Zielen hast Du nur zwei Möglichkeiten: Heilige zu werden oder zu verzweifeln; zumindest wirst Du kaum je Zufriedenheit erlangen können. Ich würde nicht eines davon erfüllen und greife nur mal die ersten heraus (zu mehr ist mein Kopf heute nicht fähig ) und kommentiere sie aus meiner Sicht:
Ich möchte allen Lebewesen liebevoll und verständnisvoll begegnen, sie bedingungslos annehmen, keinem bewusst und absichtlich weh tun oder Schmerzen zufügen.
Dieses Ziel wäre für mich eindeutig zu hoch. Ich kenne zahlreiche unangenehme Menschen, die ich nicht liebevoll und bedingungslos annehme. Jemandem nicht absichtlich weh zu tun oder Schmerzen zuzufügen, halte ich hingegen für eine Selbstverständlichkeit.
immer offen und ehrlich zu sein, ohne Heimlichkeiten und Versteckspielereien.
Ja, das möchte ich schon auch, aber wenn ich immer offen und ehrlich sagte, was ich denke, gäbe es wohl Ärger . In einer Beziehung offen und ehrlich zu sein, halte ich hingegen für sehr wichtig - und nicht einmal dort ist es durchgehend aufrechtzuerhalten.
nichts einfordern oder erwarten
Jeder, der Mitarbeiter hat, wird Leistung einfordern müssen, und ich erwarte mir ein faires Verhalten meiner Mitmenschen; im umgekehrten Fall kann ich ganz schön sauer werden.
nicht bewerten oder urteilen
Wenn ich Menschen nicht bewerte und beurteile, behandle ich die einen zu schlecht und die anderen zu gut – weil ich ja ohne irgendeine Bewertung alle gleich behandeln müsste. Würde ich nicht bewerten, gäbe es keine Berechtigung, mit Dir diese Gespräche zu führen, weil es doch viele Frauen gibt, die sich schlecht fühlen, ich aber nicht mit allen solche Gespräche führen kann und will.
Fortsetzung folgt
Liebe Grüße für den Rest des heutigen Tages, Michael
Ich nahm Michaels Worte ernst, glich sie mit meinen Gefühlen und Gedanken ab - und wartete auf die angekündigte Fortsetzung.
Liebe Lotte, also dann, es folgt die Fortsetzung:
dazu ist es als erstes notwendig, dass ich mir nicht nur meiner Handlungen voll bewusst bin, sondern mir auch meine Gedanken und Gefühle ständig bewusst mache.
Da stimme ich Dir völlig zu! Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Sich seiner Handlungen bewusst sein ist das eine, keine Lüge zuzulassen, ist das andere. Für mich gilt die Regel: Ich bin kein Freund der Lüge, aber eine Lüge ist unter keinen Umständen erlaubt: Die Lüge vor sich selbst. Man könnte auch sagen, sich selbst etwas vorzumachen ist absolut verboten!
Meine Ziele sind nichts Besonderes; man könnte sie als "Tugenden" umschreiben.
Tugend ist ein schönes altes Wort, zu dem ich mich auch bekenne. Trotzdem müssen wir – meines Erachtens – näher umreißen, was wir individuell darunter verstehen. Nur sehr wenige Menschen eignen sich zu Helden oder Heiligen. Es wäre eine Lüge vor uns selbst, wenn wir nicht anerkennten, dass wir öfters zwischen Interessen und Gefühlen hin- und hergerissen sind. Ich glaube, dass wir im Einklang mit unseren Fähig- und Möglichkeiten leben müssen. Heben wir ständig unsere Ansprüche an uns über das Maß dessen, was wir leisten können, kann jene Spannung in uns entstehen, die uns auch krank macht.
Liebe Grüße, Michael
Zeigten sich schon in den vorherigen Mails erste Anzeichen für das Brechen innerer Mauern und Dämme, die ich errichtet hatte, so wurden nun die ersten Wassereinbrüche offensichtlich. Auch wenn mir das zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, spürte ich sehr wohl, dass hier etwas vor sich ging, das sich nicht mehr stoppen ließ. Was mir natürlich auch Angst machte.
Michaels Worte beschäftigten mich sehr und spülten Wellen unterschiedlichster Gefühle hervor. In meinem Zuhause beschrieb ich stapelweise Papier mit dem Versuch, all die hochbrandenden Emotionen und Gedanken so zu beschreiben, dass sie auch für Michael zu verstehen waren. Das fiel mir damals sehr schwer, denn bisher hatte ich über all diese Dinge nur für mich allein nachgedacht, und darum nichts davon wirklich klar ausformuliert. Was für einen großen Unterschied das machte, erfuhr ich nun.
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