Lieber Michael,
ich schrieb Dir ja schon einmal von meinen Zielen und davon, dass diese nicht "angelesen" seien, sondern in mir gewachsen. Ich muss mich wohl getäuscht haben, denn inzwischen kann ich mich nicht mehr so recht damit identifizieren. Es ist ja möglich, dass das ein und andere davon eine Folge der - nicht verarbeiteten - Abtreibung waren. Aber sicher doch nicht alle.
Es hat sich etwas verändert. Sehr deutlich spüre ich das bei den geführten Meditationen, die ich schon länger mache. Setze ich mich da in letzter Zeit dran, bleibt alles oberflächlich; mehr und mehr fühle ich sogar eine echte Abneigung dagegen.
Es geht nicht mehr. Über viele Jahre war mir das ganz wichtig, und ich dachte es sei ein wirkliches Bedürfnis, das in mir entstanden und gewachsen ist.
Meine Ziele und meine Arbeit daran, machten einen großen Teil meines inneren Lebens aus. Dieser Teil ist nun einfach weggebrochen. Und ich dachte, das sei mir so sehr wichtig! Wo ist das denn jetzt hin?
Darüber würde ich gerne noch einmal mit Dir reden.
Ganz liebe Grüße , Lotte
Liebe Lotte,
der Mensch ist nicht statisch, sondern er verändert sich im Laufe des Lebens. Wenn Deine Ziele jetzt nicht mehr stimmen oder Du sie nicht mehr angemessen findest, dann lege sie beiseite.
Überlege und schreibe auf, welche Ziele Dir unter dem Einfluss der Veränderungen der letzten Zeit erstrebenswert erscheinen könnten.
Liebe Grüße, Michael
Lieber Michael,
als ich Dir damals meine Ziele schrieb, hatte ich ja eine Art Gesamtbild gezeichnet, das mir dabei vor Augen stand. Das Bild gilt für mich noch immer - ich möchte so gerne Sicherheit, Geborgenheit und Liebe ausstrahlen und geben können; und dies ebenso selbst in mir fühlen.
Nun denke ich heute, dass meine Vorgehensweise wohl bisher nicht die Richtige war, um dahin zu gelangen. Ich habe es lange Jahre mit diesem Satz probiert: Denk an die anderen, vergiss dabei mal dich selbst. Habe es also mit "Altruismus" versucht. Dazu fand ich in gewissen buddhistischen Schulen gute und auch genaue Beschreibungen und Übungen.
Mich hat das angezogen.
Als das nicht so richtig funktionierte, sich die Ergebnisse nicht einstellten, habe ich es einfach noch intensiver versucht, denn ich vermutete, ich machte wohl etwas falsch. Im Grunde lag mir diese Art zu denken und es fiel mir leicht, allerdings nur bis zu einem Punkt - über den ich nie hinauskam.
Nun muss ich feststellen, dass mir diese Art, wie ich bisher vorgegangen bin, zwar durchaus liegt, sie aber in mir - wenn ich genau hinschaue - auch "Abwehr" auslöst. Und zwar nicht erst seit gestern, sondern schon eine ganze Weile. Nur war mir das bisher nicht bewusst. Einen besseren Weg weiß ich aber nicht.
Einen lieben Gruß von mir für Dich
Liebe Lotte,
ich erinnere mich gut an unsere Diskussion! Deine Ziele hatten mich nicht überzeugt.
Nur als ein kurzer Zwischengedanke:
Du kannst "Liebe" nur schenken, wenn Du sie in Dir hast. Dazu musst Du Dich zuerst einmal selbst lieben!
Liebe Grüße, Michael
Lieber Michael,
ein kurzer Zwischengedanke von Dir genügt – und schon weiß ich nicht mehr, was ich dazu schreiben soll.
Ich vermute, Du wirst es mir nicht so recht glauben, wenn ich Dir nun sage, dass ich mich durchaus mag. Weil Du denkst, ich würde mich nur immer anklagen.
Aber ich denke, ich mag mich schon.
Liebe Grüße Lotte
Liebe Lotte,
Frauen stehen oft in der Gefahr des Altruismus. Denn ohne die Fürsorge einer Frau würde kaum eine Familie funktionieren. Frauen übersiedeln, bildlich gesprochen, in ein Hamsterrad. Und sind die Kinder weg, werden neue Objekte der Fürsorge gesucht – oft aus Angst vor der Leere.
Frauen vernachlässigen sich, was ihre eigenen Bedürfnisse betrifft. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass bei Frauen der Altruismus zur Überforderung, bei Männern zur Heuchelei führt.
Du formulierst als Ziel, für andere da zu sein.
Für wen eigentlich? Für die ganze Welt? Für deinen Mann, Deine Kinder, Deine Mutter, Deine Nachbarn? Beantworte Dir konkret die Frage, für wen Du eigentlich "da sein" willst!
Ich hielte es für viel wichtiger, dass Du Dir für Dich ein Ziel setzt! Zum Beispiel, dass Du Dir jeden Tag wenigstens einmal Freude bereitest (gerne auch öfters) - nachdem Du für Dich geklärt hast, was alles Dir Freude bereiten kann. Daraus folgt Kraft und Lebendigkeit. Du kannst Sicherheit, Geborgenheit und Liebe nur geben, wenn Du damit randvoll gefüllt bist. Dazu musst Du aber zuerst bei Dir etwas einfüllen.
Es ist gut, wenn Du erkannt hast, dass Deine altruistischen Ziele Dich nicht wirklich weitergebracht haben. Was Du schriebst, erinnerte mich stark an den Spruch (von Mark Twain glaube ich): "Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir unsere Anstrengungen".
Du magst Dich, na gut - viel ist das nicht .
Ich mag meine Nachbarin, den rieselnden Schnee, die Berge und das Meer und noch viel anderes mehr .
Mein Leben ist ein großes Projekt der Entwicklung. Ich möchte mich nicht eines Tages schämen müssen, wenn ich Rechenschaft ablege (vor mir oder vor anderen Instanzen).
Deshalb komme ich mit einem "Ich mag mich" nicht aus. Ich arbeite mit Leidenschaft und Liebe an mir; bin aber weit davon entfernt, selbstverliebt oder gar Narzisst zu sein.
Liebe Grüße, Michael
Lieber Michael,
ja, so etwa wie das, was Mark Twain formulierte, war es bei mir wohl.
Du fragst, für wen ich konkret da-sein möchte.
Selbstverständlich für meine Familie, für die Menschen, die ich liebe.
Aber auch für die, die ich mag und dann noch für alle die Menschen um mich herum, denen es hilft und guttut, wenn ich für sie "da bin".
Als kleines Beispiel: Ich kenne eine sehr liebe und sensible ältere Dame mit schweren Depressionen. Ihr Umfeld versteht nicht, dass sie nicht mehr richtig "funktioniert". Ich kann da sein und ihr zuhören – und sie kann eine Zuhörerin gut brauchen. Allerdings erzählt sie mir dabei auch immer, dass sie sich am liebsten das Leben nehmen würde – und es gibt im Grunde kein anderes Thema als dieses. Das geht mir sehr an die Substanz. Sie braucht doch aber jemanden, der ihr zuhört und ihr das Gefühl gibt, damit nicht allein zu sein.
Du kannst Sicherheit, Geborgenheit und Liebe nur geben, wenn Du damit randvoll gefüllt bist. Dazu musst Du aber zuerst bei Dir etwas einfüllen.
Das ist einleuchtend. Ich dachte aber, das füllt sich von allein. Wie sollte man so etwas denn selber auffüllen können?
Mir jeden Tag gezielt vornehmen, mir Freude zu bereiten - Du meinst damit nicht, mich an dem zu freuen was mir so über den Tag begegnet, sondern es mir richtiggehend einzuplanen? Es stimmt, da muss ich erst einmal überlegen, was das sein könnte. Das finde das gar nicht so einfach. Im Moment finde ich Freude draußen in der Natur.
Deshalb komme ich mit einem "Ich mag mich" nicht aus. Ich arbeite mit Leidenschaft und Liebe an mir; bin aber weit davon entfernt, selbstverliebt oder gar Narzisst zu sein.
Wie machst du das? Wie arbeitet man auf diese Weise an sich? Was möchtest Du erreichen? Und wie kannst Du Dir sicher sein, das Richtige zu tun?
Nicht, dass ich denke, Du seist selbstverliebt ; ich bin mir sicher, dass das nicht so ist. Aber wie spürst Du diese Grenze zwischen "ich arbeite mit Liebe und Leidenschaft an mir" und Egoismus?
Ich möchte mich nicht eines Tages schämen müssen, wenn ich Rechenschaft ablege (vor mir oder vor anderen Instanzen).
Hier sprichst Du den Sinn des Lebens an. Michael, was ist es für Dich? Was denkst Du, ist zu erreichen, damit man sich am Ende nicht schämen muss?
Übrigens finde ich ein "ich mag mich" schon ziemlich viel.
Einen entspannten Abend ohne Stress und Ärger wünsche ich Dir
Lotte
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