Lieber Michael,
gestern gab es einen Familien-Sonntags-Brunch. Das hat bei mir Auswirkungen bis heute. Meine Akkus sind völlig leer und es ist mir jeder direkte Kontakt zu viel; egal zu wem. Ich verhalte mich ziemlich ablehnend, zum Teil schon aggressiv! Das gefällt mir überhaupt nicht und macht mir auch ein bisschen Angst. Aggressivität ist für mich schon schwer auszuhalten, wenn ich sie bei anderen spüre. Bei mir will ich das nicht.
Was machst Du, wenn Du Dich ausgelaugt fühlst? Wie gehst Du mit Stress um?
Liebe Grüße
Lotte
Liebe Lotte,
bei Stress lege ich eine Reihenfolge fest, was am jeweils dringendsten durchzuführen ist. Mehrere Dinge nebeneinander werden nach meiner Erfahrung Murks.
Wenn Du vom Wochenende noch ausgelaugt bist, dann kann ich mich nur vortasten, zu dem was Dir helfen könnte. Ganz am Anfang schrieb ich Dir, dass Du Freude brauchst, als Entlastung gegenüber Anspannung. Wenn ich mich abschirme oder ausgelaugt bin, projiziere ich mir Freude vor Augen.
Ich hatte Dir damals ein paar Beispiele genannt.
Wir sind dann in diesem Gespräch durch aktuelle Ereignisse unterbrochen worden.
Alles was Dir Freude bereitet, bringt Dir Energie schneller zurück. Es geht also nicht nur ums Abschirmen, sondern auch darum, an die Stelle dessen, was Dir Probleme bereitet, etwas Positives zu setzen.
Zusätzlich könntest Du Dich nach solchen emotionalen Belastungen richtiggehend ausschütteln, wie es ein Hund mit seinem nassen Fell macht. Dann kannst Du vielleicht zusammen mit Deinem Hund darüber lachen und schon geht es Dir ein kleines Stück besser.
Liebe Grüße, Michael
Lieber Michael,
wenn Du Dich abschirmst und Dir Freude vor Deine inneren Augen projizierst – tust Du das bewusst, oder läuft es eher automatisch und von selbst ab? Wählst Du spontan, was Dir da gerade in den Sinn kommt oder suchst Du gezielt nach einer passenden Erinnerung?
Ich glaube, ich muss Ordnung, Übersicht und ein wenig System in mein Leben bringen; innen und außen.
Du hast völlig recht, auch Freude gehört mit hinein. Ich hatte früher mehr davon. Über viele Kleinigkeiten konnte ich mich freuen, und so recht weiß ich gar nicht, wann ich damit aufgehört habe. Sie hat sich irgendwie langsam ausgeschlichen.
Mir fällt gerade ein – ich hatte auch mal einen Ort, an dem ich auftanken konnte, wenn es mir nicht so gut ging. Es gibt da einen Baum, nicht weit von meinem Zuhause. Ein Bild von einem Baum, finde ich.
Wenn ich mich an ihn angelehnte, Stirn an Stamm, dann hat er mir wirklich etwas geschenkt. Ich konnte seine Kraft spüren, seine Ruhe, seine Größe und eine Weite - das war ein sehr gutes Gefühl. Und gerade frage ich mich, warum ich diesen Baum schon seit Jahren nicht mehr "besuche". Das werde ich ändern.
Nun werde ich noch meinen Abendspaziergang mit meinem Hund machen.
Ich wünsche Dir einen ruhigen und schönen Abend.
Lotte
Liebe Lotte,
prinzipiell bin ich spontan; meine Intuition ist gut und deshalb weiß ich meist, was ich zu tun habe. Aber in Belastungs- oder Stress-Situationen würde eine Spontan-Reaktion möglicherweise falsch sein. Deshalb habe ich dafür mindestens 100 Freude-Situationen gespeichert. Natürlich muss man die einmal überlegt und im Bewusstsein geparkt haben.
Solche verwende ich auch, wenn ich in der Nacht wach werde, dunkle Gedanken zu dräuen beginnen und ich Ablenkung suche. Meistens schlafe ich mit solch einer Freude-Situation wieder ein.
Dass Du mehr oder weniger unbewusst Freude aus Deinem Leben verdrängt hast, das war für mich von Anfang an zu spüren. Schön, dass Dir jetzt die Sache mit dem Baum wieder eingefallen ist. Ja, umarme ihn! So ein Baum gibt Kraft, Harmonie und Vertrauen. Bäume sind nicht einmal eifersüchtig, wenn Du auch einen anderen hübsch findest . Sammle Freude-Gefühle aus Deinem Leben und setzte sie bewusst ein, wenn Du Freude brauchst.
Ich schicke Dir noch ein Beispiel einer Freude-Situation von mir; ich habe eine Kurzgeschichte daraus gemacht:
Ein Tag mit Gerda
Es war April und ich hatte beruflich in Tirol zu tun.
Das Wetter wechselte alle fünf Minuten und wenn die Sonne schien, glänzten die weißen Berge, als wollten sie die Verheißung jener Branche erfüllen, die vorgibt Weißes noch weißer zu machen.
Ich liebe Ski zu fahren und mit einem Mal war die Lust darauf riesengroß.
Ich fragte meinen Terminkalender nach seiner Meinung, schob telefonisch einiges hin und her und plötzlich hatte ich mir einen freien nächsten Tag verschafft.
Früh morgens quälte ich mich bei dichtem Schneefall zum Arlberg. Skeptisch blickte ich zum Himmel, ob sich nicht doch irgendwo eine Wolkenlücke auftun könnte. Immerhin hörte es bald auf zu schneien und als ich mir Ski und Schuhe besorgt hatte, rissen die Wolken ein wenig auf und erste Sonnenstrahlen ließen den neuen Schnee glitzern.
Ein ungeplanter freier Tag und dann noch Skifahren, mein Gott war das schön!
Nach einer meiner ersten Abfahrten landete ich bei einer Sessellift-Talstation.
Der Zufall wollte, dass ich neben einer jungen Frau zu sitzen kam. Ohne Flirt-Ambitionen plauderte ich los - von der Schönheit der weißen Berge.
Erst hörte sie mir nur zu und viel mehr als „Ach ja?“ oder „Ach so!“ konnte ich ihr nicht entlocken. Inzwischen hatte der Sessellift die Bergstation erreicht und wir mussten aussteigen.
„Sie können gut erzählen“, sagte sie mir beim heraus gleiten, lächelte mich an und fuhr los.
Ich folgte in einem großen Abstand, weil ich nicht aufdringlich erscheinen wollte.
Aber bei der Talstation wartete sie – auf mich, wie sich herausstellte.
„Erzählen Sie weiter“, sagte sie, während wir gemeinsam zum Einstieg rutschten.
Jetzt wurde ich verlegen. „Oh, damit habe ich nicht gerechnet!“ „Haben Sie ihr ganzes Pulver schon verschossen?“, fragte sie lachend.
Und dann schwebten wir wieder nach oben, einem blauen Himmel entgegen.
„Meine Eltern schleppten mich schon auf Berge“, erzählte ich, „als ich gerade laufen konnte. Mein Vater stellte mich samt Skiern auf einen Hügel, gab mit einen Schubs und dann fuhr ich so weit, bis ich in einer Schneewolke verschwand“. „Bei uns in Paderborn hatten wir fast nie Schnee“, sagte sie; "ich habe erst vor ein paar Jahren gelernt, Ski zu fahren." „Dafür fahren sie aber hervorragend!“ Sie sei jetzt mit einer Studentengruppe ihrer Fakultät hier und das sei auch die einzige Möglichkeit im Jahr, um Ski zu fahren.
Das war unsere zweite gemeinsame Liftfahrt. Oben angekommen trennten wir uns nicht mehr und wie selbstverständlich verbrachten wir den Skitag zusammen.
„Warum fahren Sie denn nicht mit ihrer Gruppe“, fragte ich sie schließlich.
„Ich habe mich gestern mit meinem Freund gestritten. Ich wollte allein sein“. „Störe ich sie beim Alleinsein“? Sie lächelte so zauberhaft, wie nur junge Mädchen lächeln können. „Nein! Im Gegenteil, ich hatte nicht mit so einem anregenden Tag gerechnet“.
Wir erzählten und erzählten, als wüssten wir schon, dass uns der Tag zu kurz werden würde.
Auf irgendeinem der unzähligen Lifte fuhren wir direkt in die Sonne. Sie lehnte sich zurück, um die Sonne zu genießen. Ohne viel nachzudenken legte ich meinen Arm um ihre Schultern. Das ist auf einem Lift nicht unbedingt bequem. Aber sie lehnte sich so weit es möglich war zu mir. Dabei sprachen wir kein Wort, genossen die Sonne, uns und den Augenblick.
Irgendwann holte sie aus einem kleinen Rucksack zwei Äpfel hervor und gab mir einen. „Ich will heute in keine Hütte“, sagte sie. „Bist du hungrig?
Gerne nahm ich den Apfel; ja, ich war hungrig. Du? Ja, sie hatte du gesagt.
Später holte sie noch ein paar Kekse hervor. Wir hatten es uns inzwischen vor einem Heustadl gemütlich gemacht. Immer noch schien die Sonne, die Wolken hatten sich irgendwohin verzogen. Ich nahm etwas Schnee in meine Hände, ließ ihn langsam schmelzen und fragte sie: „Hast du Durst?“
„Oh ja! - ? - Meinst du ernsthaft, ich soll dir aus der Hand trinken?“ „Wir können uns auch Gläser kommen lassen“, sagte ich lachend.
Dann beugte sie sich über meine Hände und trank. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich noch heute ihre Lippen.
„Erzähl mir von dir“, bat sie mich anschließend. Und bald redeten wir wieder und redeten. Wir saßen nahe beieinander und unsere Hände stützten sich auf einen Holzbalken.
Sie lagen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Und dann nicht einmal mehr das.
Allmählich wurden die Schatten länger und wir einsilbiger.
Wir wussten, dass diesem Tag keine weiteren folgen würden.
Als wir schließlich nach der letzten Abfahrt im Tal ankamen, standen wir uns gegenüber.
Wir rangen beide nach Worten.
„Ich heiße Gerda“, sagte sie schließlich und küsste mich auf den Mund.
„Und ich Michael“ stammelte ich.
„Leb wohl – du!“
Sie streichelte mit dem Handrücken meine Wange.
In unser beider Augen glänzten ein paar Tränen.
Dann drehte sie sich um und stapfte davon.
Ich schaute ihr lange nach. Spät, sehr spät drehte sie sich um und winkte.
Möglicherweise wollte sie nicht, dass ich sah, wie sie weinte.
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Liebe Grüße, Michael
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