Folge dieser schlaflosen Nacht war, dass ich sehr unausgeschlafen in meine allererste Alleine-Reise startete. Allerdings war meine Anspannung – und ja, auch eine gewisse Vorfreude! – so stark, dass ich überhaupt nicht müde war.
Es gäbe so viel allein nur über die Fahrt zu schreiben. Alles daran war aufregend und neu für mich. Ich fühlte mich – unbeschreiblich! Gut und schlecht, aufgeregt und angeregt, hellwach und ängstlich …. und das alles zugleich.
Neben mir auf dem Beifahrersitz lagen viele Zettel mit einer höchst-genauen Beschreibung der Strecke. Immer wieder sah ich darauf, um ja nichts Wichtiges zu verpassen und kein Autobahnkreuz zu übersehen.
Weniger als drei Stunden Fahrt sind im Grunde keine Zeitspanne, für die es eine Pause braucht. Doch für mich war es nicht einfach nur eine Fahrt; es war eine Reise! Und eine Reise braucht eine Rast. Also hielt ich an einem Rastplatz an, holte meine extra für diesen Zweck vorbereitete Rohkost-Mahlzeit hervor, setzte mich auf eine Bank, atmete tief ein und schaute mich um.
Hier war ich also – unterwegs. Wie so oft in meinen Träumen, in denen ich allein nach „irgendwo“ unterwegs war. Nun war es real. Und genau wie ich mich in diesen Träumen fühlte, empfand ich es auch hier in diesem Moment. Hinter meiner Unsicherheit spürte ich Freude – und Freiheit.
Die Fahrt verlief problemlos. Mit jeder Minute konnte ich mich etwas mehr entspannen und begann sie sogar zu genießen. Ich freute mich über meinen Mut, über die Tatsache, etwas für mich völlig Neues zu tun – ich freute mich sogar darüber, dass ich mich gerade freuen konnte. Und natürlich über die Aussicht, bald ein paar Tage am Wasser zu verbringen. Dahin zog es mich wirklich sehr.
Irgendwann – ich war schon von der Autobahn auf die Landstraße gewechselt und wusste (dank der vielen Zettel) genau, dass ich meinem Ziel schon recht nah sein musste - sah ich rechts von mir, zwischen Bäumen und Büschen, Wasser in der Sonne glitzern! Diesen Moment werde ich niemals vergessen. In mir jubilierte es. „JAAAA!“ rief ich laut während mir gleichzeitig Tränen kamen. Triumph, Glück, Erleichterung und eine riesige Freude erfüllten mich.
Ich, Lotte, war hier!
Dachte ich, das Schwierigste nun gemeistert zu haben, musste ich schnell meinen Irrtum erkennen. Vorab keine Unterkunft gebucht zu haben rächte sich nun. Es war keine Schulferienzeit, ich war allein unterwegs und daher ging ich davon aus, vor Ort reichlich Auswahl an Quartieren zu haben. Einige Appartements hatte ich mir zu Hause via Internet schon angeschaut und notiert. Diese wollte ich mir nun vor Ort genauer anschauen – um das Schönste davon auszuwählen.
Das war mein Plan.
Die Realität war eine andere.
Es gab nichts zu wählen.
Schon das erste angesteuerte Quartier war ausgebucht. Von der Vermieterin erfuhr ich, dass die ganze Insel so gut wie ausgebucht war; so wie jedes Jahr um diese Zeit. Noch war ich aber guter Dinge. Für mich als Allein-Reisende war doch sicher etwas Hübsches frei! Wieder irrte ich mich. Nach Stunden des Suchens begann leichte Panik in mir hochzukriechen. Schließlich ging ich ins Touristik-Büro, das unübersehbar im Zentrum der kleinen Insel thronte. Die Dame dort war sehr hilfsbereit, zauberte eine lange Adressen-Liste aller Vermieter aus einer der vielen Schubladen hervor, nahm das Telefon und wählte eine Nummer nach der anderen an. Nach einer beträchtlichen Anzahl von Absagen hatte sie tatsächlich Erfolg.
Für zwei Nächte könne ich in einem sehr kleinen Zimmer unterkommen, meinte sie. Es sei zwar eher ein Notquartier, aber besser als nichts. In zwei Tagen könne ich dann umziehen in ein bis dahin freigewordenes Appartement.
Sie notierte beide Adressen auf ein Blatt, reichte es mir und wünschte mir trotz der Startschwierigkeiten einen schönen Aufenthalt.
Beide Unterkünfte lagen in der Inselmitte und nicht, wie ich es mir gewünscht hatte, direkt am Wasser. Aber für Wünsche war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
Das kleine Zimmer entpuppte sich nicht nur als winzig, sondern auch als sehr alt. Es roch muffig und mir sank das Herz; von meiner Euphorie und Freude war nicht mehr viel übrig.
„Komm schon Lotte“, versuchte ich mich aufzumuntern. „Immerhin ist es hier sauber, du hast ein Bett, eine Toilette und ein Waschbecken. Sei froh, dass du nicht im Auto übernachten musst. Für zwei Nächte wird es schon gehen!“
Meine Aufmunterungsversuche halfen nicht; ich war müde, enttäuscht und kein bisschen glücklich – im Gegenteil. Hier in diesem Zimmer fühlte ich mich einfach nur unwohl.
Und: Ich hatte keine Internetverbindung! Als ich das entdeckte, fühlte ich mich nicht nur unwohl – ich hätte auf der Stelle losheulen können.
Schon auf der Fahrt dachte ich sehr oft an Michael und daran, wie ich ihm alles genau beschreiben würde - die Gefühle beim Anblick des Wassers, meine Freude, einfach alles wollte ich ihm erzählen. Nun, da das nicht ging, wurde mir klar, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte und wie wichtig er für mich war. Ich fühlte mich allein und auch ein bisschen verloren.
Aber ich wollte keine Zeit, keine Stunde meiner Reise mit Niedergeschlagenheit verschwenden! Ich war hier am Bodensee – am Wasser! Ich hatte es geschafft! Also Schluss mit Trübsal blasen. Der See rief! Und ein Fahrrad wollte ich mir mieten - irgendwo würde sich doch sicher ein Verleih finden lassen. Entschlossen verstaute ich mein Gepäck und verließ das winzige Zimmer.
Als ich hinaus ins Sonnenlicht trat fühlte ich mich schon etwas besser.
Kurz bevor ich den Hafen erreichte, sah ich ein Schild mit der Aufschrift „Melcherleshorn“. Durch meine Recherche im Internet wusste ich, auf welchem Teil der Insel ich mich befand. Neugierig schaute ich mir die Häuser an. Etliche lagen direkt am Wasser und hatten einen eigenen Zugang zum See. So zu wohnen, das wäre mein Wunsch gewesen. Doch laut Belegungskalender der entsprechenden Internet-Buchungsseiten waren die interessanten Appartements hier in dieser Ecke der Insel während meines Aufenthaltes alle schon belegt. Genau das war auch in roter Schrift auf den Hinweisschildern vor jedem Haus zu lesen, an dem ich vorüber ging.
Vor einem besonders hübschen Haus blieb ich stehen. Auch hier stand auf dem ebenso hübschen Schild klar und deutlich: Appartement belegt.
Ohne nachzudenken folgte ich einem Impuls und läutete dennoch an der Türe. Und tatsächlich, es war jemand zu Hause. Die Besitzerin öffnete und ich fragte, ob das Appartement vielleicht morgen oder übermorgen frei würde? Leider nein, antwortete sie. Das war natürlich zu erwarten gewesen; trotzdem kroch Enttäuschung in mir hoch und ich fragte mich, warum ich überhaupt geklingelt hatte. Aber - sprach sie weiter - sie habe noch ein kleines Ein-Zimmer-Appartement unterm Dach, das sei frei. Ob ich es mir einmal ansehen wolle?
Oh, und wie ich wollte! Wir gingen nach oben – und mein Herz hüpfte vor Glück! Wie schön es hier war! So hatte ich es mir vorgestellt. Hell und freundlich eingerichtet, ein komfortables Badezimmer, eine kleine Kochecke; doch das Schönste war das riesige Fenster mit herrlichem Blick auf den See. Internetzugang gab es auch … Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Nach der Schlüsselübergabe lief ich im Eiltempo zurück, um meine Sachen zu holen und knapp eine Stunde später war ich in mein neues Quartier eingezogen. Nun war ich wirklich auf der Insel angekommen!
Das Haus hatte einen eigenen Seezugang. Ich ging nach unten, setzte mich ans Ufer und schaute und schaute und schaute. Dabei konnte ich gar nicht aufhören zu grinsen vor lauter Freude. Ein bisschen war ich auch stolz auf mich. Das hatte ich, alles in allem, letztlich doch ganz gut hinbekommen.
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