Abschied
Dass vor jedem Neuanfang zuerst einmal ein Abschied steht, ist zwar eine Binsenweisheit, die jedoch nicht immer in all ihren Konsequenzen angeschaut und durchlebt wird. Herrmann Hesse beschrieb die Tiefe dieser Wahrheit mit wundervoll berührenden Worten in seinem Gedicht „Stufen“:
… Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne …
Michael riet mir, mir reichlich Zeit und Raum für den Abschied zu nehmen. Anstatt mich also sofort auf das Neue zu fokussieren, wozu ich neige, nahm ich seinen Rat an. Vor allem auch von dem Haus, das seit meiner Kindheit Heimat für mich war, verabschiedete ich mich bewusst. Von Teich, Fischen und Molchen; dem Wildwuchs-Unkraut-Garten voller strahlendgelber Ringelblumen und samtigem Borretsch; vom taufeuchten Gras, über das ich frühmorgens so gerne barfuß lief. Ich nahm Abschied von der Wiese oberhalb des Teiches, die für mich ein liebgewonnener Platz zum Lesen oder einfach nur Träumen war. Ja, selbst dem Vogelzwitschern lauschte ich mit Abschiedsstimmung im Herzen. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass der Abschied von all diesen Dingen so schmerzvoll und schwer für mich werden würde. Doch ich spürte genau, wie richtig Michaels Rat war. Schmerz, Angst, Freude, Trauer … nichts verstecken, nichts wegschieben, alles fühlen und bewusst wahrnehmen. Nur so konnte ich frei und offen für Kommendes sein. Auch wenn es schmerzte tat es mir doch gut, auf diese Weise Abschied zu nehmen.
Neben dem Abschiednehmen schaute ich mich nach einem neuen Zuhause für mich um. Fünf Monate nach der Scheidung fand ich eine kleine, hübsche Wohnung in einem Örtchen nur wenige Kilometer entfernt. Abschiedsgefühle und Vor-Freude vermischten sich.
Lieber Michael,
ich bin am Packen, notiere mir alles, was noch zu tun ist und habe ein ganz gutes Gefühl, was die Organisation betrifft.
Ich freue mich und ich bin neugierig-gespannt auf das Neue.
Gestern, als ich im Garten saß, wurde mir aber sehr bewusst, dass dies ein Zuhause für mich war/ist, seit ich denken kann; vor allem der Garten. Das ist schon so, seit ich als Kind hier über Jahre mit meiner Oma lebte. Wenn ich jetzt hier wegziehe, wird dieses Zuhause keines mehr sein für mich. Auch nicht "im Hintergrund" als Gefühl. Dieses „nie mehr“ fühlt sich äußerst endgültig an.
Für meine Kinder bleibt es ein Zuhause, das sie besuchen können, wenn sie das Bedürfnis haben - und das finde ich sehr schön.
Für mich aber ist der Abschied endgültig - was mich traurig macht. Obwohl ich mich wirklich auch auf meine erste eigene Wohnung freue.
Bei meinem Morgenkaffee heute saß ich draussen und genoß die sommerliche Früh-Morgen-Stimmung mit ihrem traumhaften Licht!
Und ich spürte deutlich, dass das Erleben solcher Momente nicht an einen besonderen Ort gebunden, oder mit einer Erinnerung verknüpft sein muss. Um solche Momente zu fühlen braucht es im Grunde nichts anderes als diesen Moment selbst, mit all dem, was er für mich gerade mit sich bringt. Das ist für mich voll gefühlter Frische, Freiheit und Weite.
Gestern wechselte ich von Abschied zu Vorfreude - das ging von alleine und war klar und deutlich zu spüren. Irgendwann war es einfach "fertig" und genug des Abschieds; ich hatte große Lust zu packen und habe das Fensterblatt, das ich auch mitnehmen will, nun endlich so versorgt, dass es die Reise hoffentlich gut übersteht. Lange Jahre war es nämlich ein ziemlich kränkliches Ding. Als ich hier im Haus die räumliche Trennung von meinem jetzt -Ex-Mann vollzog indem ich ins obere Stockwerk zog, bekam es von mir einen schönen Fensterplatz und viel Aufmerksamkeit. Da legte der Kümmerling dann plötzlich los und inzwischen ist er mir über den Kopf gewachsen.
Am Montag bekomme ich die Schlüssel für die Wohnung! Am Abend werde ich mit meinen Umzugshelfern das Auto packen - und am Dienstag früh ist der Umzug!
Vor ein paar Tagen schriebst Du mir:
Es gibt eine Zeit in unserem Leben, für die tragen wir keine Verantwortung. Dann gibt es eine zeitliche Grauzone, in der die Verantwortung nicht ganz klar ist und irgendwann sind wir allein verantwortlich. Die Zeit Deiner Eheplanung fiel in die Grauzone; dort hinein fällt Deine "Trotz-Phase" Deinen Eltern gegenüber und Deine Verantwortung, Deinem Männchen die Verantwortung für Dich zu übertragen.
Ja, genau. Ich übertrug ihm die Verantwortung für mich und mein Leben. Dabei, so denke ich heute, blieb meine Persönlichkeitsentwicklung zu einem beträchtlichen Teil in dieser Grauzone stecken - ich habe mich einfach gedrückt, erwachsen zu werden.
Der Abschied jetzt von dem Haus, das für mich als Kind bis in meine Träume hinein immer ein Ort der Zuflucht war, erschien mir gestern schon fast symbolisch als ein Zeichen für meine Bereitschaft, jetzt endlich erwachsen zu werden.
Vielleicht fühlt sich das Alles hier auch darum so gewichtig und wirklich bedeutsam für mich an.
Dass Verabschieden wichtig ist, spürte ich deutlich. Was ich mich - und somit Dich – frage, ist: Warum ist das so und was genau geschieht dabei?
Liebe Grüße
Lotte
Nun also verlässt Du das Elternhaus und wirst erwachsen.
Das sehe ich auch so.
Im übrigen gefällt mir die Stimmung in der Du schreibst. Das hört sich nach einem guten Anfang an und der Abschied klingt schon fast wie der Nachhall eines abgeschlossenen Gefühls.
Gerade wollte ich Dir schreiben, liebe Lotte, dass ich Dich - während Du an Deinem Umzug arbeitest - offiziell davon befreie, mir schreiben zu müssen.
Nun hast Du aber doch noch eine aktuell passende Frage.
Alles was "man" halb- oder unfertig zurück lässt, kann ein Eigenleben entwickeln, das sich in schwachen Momenten unangenehm bemerkbar machen kann. Das gilt für Weibchen noch mehr als für Männchen. Verabschieden sagt auch den Gefühlen, dass etwas vorbei ist. Dass Du eine Gefühlsbeziehung für dieses Haus hast, steht außer Frage.
Liebe Grüße, Michael
Inzwischen war der Umzug mit Helfern reibungslos über die Bühne gegangen.
Die meisten Möbel in meinem neuen Zuhause fehlten noch - sie würden erst in ein paar Tagen oder Wochen geliefert werden. All meine Dinge blieben also vorerst in den Umzugskisten. Einzig laptop und Lautsprecher standen betriebsbereit auf einem kleinen Tischchen.
In einer Ecke des Wohnzimmers hatte ich eine dicke Decke ausgebreitet und ein paar Kissen darauf verteilt. Mein erster, gemütlicher Sitzplatz in meinem neuen Heim.
Nun stand endgültig der Abschied an. Ein Allerletztes Mal fuhr ich zurück, um meinen letzten persönlichen Krimskrams zu holen.
Am Abend setzte ich mich auf den einzigen Stuhl in meiner Wohnung und schrieb Michael.
Hier sitze ich nun - in MEINER Wohnung!
Es ist geschafft! Das letzte Stück ist heute mit mir umgezogen, die Schlüssel sind abgegeben - jetzt ist es also tatsächlich wahr geworden.
Ich danke Dir lieber Michael - Du hast mich so sehr unterstützt!
PS: Vorhin, als ich nach dem Adieu-Sagen ging - das war ein gutes Gefühl.