Und hier beende ich die Aufzeichnung unserer Gespräche.

Irgendwo muss ich einen Schlusspunkt setzen - und dieser Moment erscheint mir gut geeignet.  Schließlich war mit dem Einzug in die neue Wohnung nun auch von außen und für alle erkennbar: Lotte startet in ein neues Leben.

 

Es gäbe noch so Vieles zu schreiben. Schließlich ist dies eine Lebens-geschichte und kein Märchen, das mit einem „und sie lebte glücklich bis an ihr Ende“ endet.

Immer wieder tauchten neue Herausforderungen auf, die bewältigt werden wollten. Genausowenig lösten sich Ängste und sonstige Lebens-Unschönheiten mit der Trennung in Luft auf. Die „Arbeit“ an meiner Persönlichkeitsentwicklung hatte gerade erst begonnen, ein Ende war nicht in Sicht. Andererseits erlebte ich wirklich Vieles neu und fühlte mich freier und stärker als früher. Vielleicht lässt es sich am besten so beschreiben: Irgendwie war tatsächlich alles anders - und doch ging es nahtlos weiter.

 

Michael blieb als Mentor und Freund weiterhin virtuell an meiner Seite. Wir diskutierten intensiv über alles, was mich bewegte und interessierte. Häufig waren das Themen rund um Beziehung, Gefühle, und natürlich auch diese ganz besondere Anziehung zwischen Frau und Mann - mitsamt den Schwierigkeiten, die die beiden Geschlechter miteinander haben. Es war überaus spannend und bereichernd, hierüber völlig offen mit Michael reden zu können. Nicht nur wegen seines beeindruckenden Wissens (oft fragte ich mich, wie es möglich ist, so viel Wissen in nur einem Leben anzusammeln!) Es war neu für mich, mit einem Mann so ehrlich über - auch subtile - Unterschiede im weiblichen und männlichen Gefühlsleben zu reden, komplett frei von Schwindeleien und Beschönigungen. Mehr als einmal erstaunten mich unsere oft äusserst unterschiedlichen Gefühle und Gedanken zu bestimmten Themen; selbst bei Kleinigkeiten wurde das offensichtlich.

Ging ich früher bei vielem wie selbstverständlich davon aus, „ER“ (das männliche Wesen) fühle im Grunde ähnlich wie ich, habe ähnliche Bedürfnisse, nahm die Dinge ähnlich wahr wie ich es tue, so lernte ich nun, dass ich mich hierbei gewaltig geirrt hatte. Manches war nahezu gegensätzlich anders.

Schmunzelnd und mit einem Augenzwinkern stellten Michael und ich fest, dass ich im Fach Männchenkunde ein „mangelhaft“ bekäme, würden Schulnoten dafür vergeben. Immerhin brachte ich es im Laufe der Zeit auf ein befriedigend, hin und wieder reichte mein Wissen sogar für ein „gut“. 

Was Michael betrifft, dazu lediglich so viel: Er konnte nur darum ein solch herausragender Mentor für mich - eine Frau - sein, weil seine Kenntnisse in Weibchenkunde sehr weit über dem Durchschnitt lagen.

 

Aber auch anderes war und blieb Thema. Philosophie und Spiritualität, Gesundheit, Selbstverantwortung, Krisenbewältigung - im Grunde ließen wir keinen Aspekt des Lebens aus.

 

Einmal füllte ich einen imaginären Koffer mit alten, belastenden Erinnerungen und Gefühlen aus meiner Vergangenheit, die zwar als Erlebnisse nicht mehr aktuell waren, deren Auswirkungen aber noch immer bis in mein damaliges Gefühlsleben hinein spürbar waren. Dies hatte sich im Verlauf unserer tiefen Gespräche gezeigt. 

Noch einmal bewusst hinzuschauen um mir anschließend - ebenso bewusst und im Detail - vorzustellen, wie ich alles Belastende in einen Koffer packe, war Michaels Idee. Den auf diese Weise gefüllten Koffer in einen noch aktiven Vulkan in Chile zu werfen, um ihn sich in der heißen Magma auflösen zu lassen - diesen Gedanken steuerte ich bei.

Gemeinsam taten wir dann auch genau das. Ich war für die Reiseplanung zuständig; schließlich waren es meine Erinnerungsbilder und Gefühle, um die es ging. Das tat ich so, als würde die Reise in der Realität stattfinden: Nach Hin- und Rückflügen schauen, geeignete Quartiere und einen Mietwagen suchen, Daten und Zeiten organisieren, mit Michael absprechen, der mich ja begleiten würde (wir entschieden uns bei den Übernachtungen für Einzelzimmer smile), bis hin zum Finden eines Guides inklusive Trägern vor Ort, die uns mitsamt Koffer hoch an den Rand des Vulkans führen würden, um eine geeignete Stelle ausfindig zu machen, an der ich den Koffer in den Schlund des Villarica werfen wollte.

 

Michaels Gedanke dabei war, alles so realistisch wie möglich zu gestalten. Auf diese Weise würde es vielleicht gelingen, diese alten Erinnerungen in mir ganz real auch aufzulösen. „Ich habe keine Ahnung, ob das so funktionieren kann, aber einen Versuch ist es wert“ schrieb er.

Das so anzugehen, darauf wäre ich nie gekommen. Ich hätte mir einfach einen Vulkan vorgestellt, und wie der Koffer dort drinnen verschwindet. Mir leuchteten seine Gedanken dazu aber sehr ein. Zudem machten mir die Reisevorbereitungen großen Spaß und mit jedem Detail, das ich plante, wuchs mein Gefühl, wirklich dorthin zu reisen. Imagination und Realität begannen sich auf interessante Weise zu vermischen. 

 

Michaels Phantasie war bezaubernd und seine Begleitung machte diese virtuelle Reise - die tatsächlich auch über 5 Tage andauerte - für mich zu einem sehr besonderen und eindrücklichen Erlebnis. Auch wenn sie in meiner Erinnerung einen festen Platz hat, ist es doch schön, diese auch in Texten festgehalten zu wissen.

Ach ja, und wegen des Ergebnisses: Soweit ich das beurteilen kann, hat der Plan gut funktioniert. Als wir aus Chile zurück waren, spürte und „schaute“ ich nach: der Raum in mir, in dem ich den Koffer packte, in dem er bis zur Abreise auch stand, dieser Raum war nun nach der Rückkehr hell und leer; bereit dafür, mit Neuem - Schönem! - gefüllt zu werden.

 

Nicht zuletzt blieb Michael auch weiterhin ein wichtiger Teil meines ganz realen und aktiven Lebens. Er freute sich mit mir an meinen Erfolgen und half mir da, wo ich allein nicht weiterkam oder seine Hilfe suchte. Vor allem aber bestärkte und ermutigte er mich immer wieder, Neues zu probieren. Er traute mir weit mehr zu als ich es selbst tat. Und ich vertraute ihm, auch hierbei. Das gab mir den Mut, Dinge zu tun, die ich sonst nicht gewagt hätte.

 

Ohne Frage, ich liebte ihn. Wie hätte ich diesen Mann nicht lieben können! Der Wunsch, ihn „real“ zu treffen, wurde zunehmend stärker. Auch darüber schrieben wir und so wusste ich, dass Michael keine „klassische“ Liebesbeziehung beginnen wollte. So weit hatte ich aber auch gar nicht gedacht. Was ich mir vorstellte war lediglich, zu ihm zu fahren, ihm in die Augen zu sehen und mit ihm zu reden. Ich wollte ihm nah sein.

Durch unsere Gespräche hatte sich viel Nähe, Vertrautheit, ja Intimität zwischen uns aufgebaut. Das war einerseits der Grund, warum ich mich immer stärker nach einem Treffen sehnte, aber ebenso der Grund, warum wir uns nicht trafen. Einfach „nur treffen“ war utopisch.

 

Es gäbe zwei Varianten, die bei einer solchen Begegnung wahrscheinlich seien, brachte es Michael auf den Punkt, als wir wieder einmal darüber schrieben. Entweder würde während unseres Treffens ein Funke überspringen und wir uns früher oder später „in die Arme sinken“ (was Michael für sich zweifelsfrei nicht anstrebte), oder der Funke sprang nicht über und einer von uns wäre enttäuscht. Beide Varianten aber hätten zur Folge, dass ein Weiterschreiben wie davor mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht möglich sei.

„Wenn von zwei möglichen Varianten zwei nicht erstrebenswert sind, ist es besser, es sein zu lassen“, war sein Fazit.

 

Ich wusste, dass Michael recht hatte. Und mir war natürlich auch klar, wer mit „einer von uns wäre enttäuscht“ gemeint war. Ich. Denn im Grunde beschwindelte ich mich damals wieder einmal selbst, indem ich mir vormachte, ihn nur „einfach treffen“ zu wollen. Natürlich wäre ich enttäuscht gewesen, würden wir beide bei Tee oder Kaffee nebeneinander sitzen, als wären wir einfach nur alte Bekannte. Er war so viel mehr für mich. Dass wir uns in die Arme sinken - oh ja, das war eine schöne Vorstellung für mich. Nur das Danach - da wusste ich nicht, was ich hier wollen würde und wie das aussehen könnte.

 

Ja, was wollte ich denn eigentlich? Das fragte mich Michael und ich fragte mich das auch. Ich wusste es nicht. Leichter war für mich zu sagen, was ich nicht wollte. Auch ich wollte keine „klassische“ Beziehung. Begann ich doch gerade erst meine Freiheit und relative Ungebundenheit zu genießen. Zudem hatte ich von „klassischen Beziehungen“ wirklich genug. Unsere Beziehung fiel völlig aus jedem mir bekannten Rahmen, war einzigartig und nicht einzuordnen. Gerade das machte sie für mich noch zusätzlich zu etwas ganz Besonderem. Ich liebte dieses Besondere und wollte das, was wir hatten, auf keinen Fall gefährden.

 

Gesetzt den Fall, es würde tatsächlich eine Nah-Liebesbeziehung daraus, würde sich alles verändern, würde es  „normaler“ werden? In einer Schublade enden? Diesen besonderen Zauber einbüßen? Davor hatte ich Angst. Was, wenn all das für mich Schöne durch eine reale Begegnung zerstört wird?  Und selbstverständlich war meine Angst groß,  Michael könnte von mir - in natura - enttäuscht sein.

Nichts von all dem war abwegig.

 

„Manchmal liegt der Zauber einer Beziehung in ihrer Möglichkeit“ - auch das ist ein Satz, den mir Michael in diesem Zusammenhang schrieb.

War es so?

 

Dennoch, meine Sehnsucht blieb. Sie zeigte sich besonders gerne, wenn ich für mich die Entscheidung (wieder einmal) getroffen hatte: Schluss damit, ich lasse es wie es ist und freue mich an unserer Beziehung so wie sie ist - Punkt.

Aber … vielleicht ..., so flüsterte sie mir dann leise ins Ohr, vielleicht ist es ja doch möglich? Vielleicht würdest du gar nichts verlieren? Vielleicht kommt alles ganz anders als du es dir vorstellst - schöner? Woher willst du es wissen, wenn du es nicht versucht hast?

 

So schwankte ich hin und her zwischen Sehnsucht, die mich zu Michael zog und Einsicht, dem Bedürfnis alles genau so zu belassen wie es ist.

War ich gar zu stark hin und hergerissen, besänftigte ich meinen inneren Zwiespalt mit einem „Später“.

Später, sagte ich mir bei solchen Gelegenheiten, später wird sich vielleicht eine Lösung hierfür zeigen.

Später irgendwann werden wir uns sehen.

 

Doch ein „Später“ gab es nicht.

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