Es war Mitte März. Am Morgen schrieb ich Michael von dem Tag, der vor mir lag. Ein Interview für meine Serie war in Planung und an diesem Vormittag hatte ich das Vorgespräch dafür vereinbart.
Meine Gesprächspartnerin - eine sehr interessante Frau - war offen, sympathisch und alles lief bestens. Anschließend ging ich in ein hübsches Café um die Eindrücke in mir nachhallen zu lassen. Das tat ich gerne nach einem solchen Termin und genoss dies normalerweise auch bewusst. An diesem Tag aber wollte keinerlei Freude bei mir aufkommen. Im Gegenteil fühlte ich mich unwohl und spürte Anflüge von Angst. Einordnen konnte ich diese Gefühle nicht - es gab aus meiner Sicht nicht den geringsten Anlass. Verwundert über meine Unruhe brach ich das Kaffeetrinken ab und fuhr zurück.
Zuhause angekommen sah ich, dass Michael noch nicht geantwortet hatte. In einer kurzen Mail beschrieb ich ihm, wie das Gespräch verlaufen war. Von meinem Unwohlsein schrieb ich nichts. Ich vermutete, nicht behutsam genug gegessen zu haben.
Als auch am nächsten Morgen keine Mail von Michael angekommen war, wurde ich noch unruhiger. Am Abend nach der Arbeit galt mein erster Blick dem PC. Da war eine ungelesene Nachricht in meinem Postfach - allerdings nicht von Michael, sondern einer gemeinsamen Freundin. Mein Herz pochte. Hier stimmte etwas nicht! Von ihr hatte ich schon länger keine Post mehr bekommen. Ich öffnete die Nachricht und las.
Michael war am gestrigen Vormittag verstorben.
Mir zog es den Boden unter den Füßen weg.
Niemand in meinem direkten Umfeld wusste von Michael und meiner Beziehung zu ihm. Offen zu trauern oder mit jemandem über meine Gefühle zu reden war daher nicht möglich. Doch war das überhaupt Trauer, was ich spürte? Ich stand unter Schock. So richtig war die Tatsache von Michaels Tod nicht zu mir durchgedrungen. Ja, ich wusste von den gesundheitlichen Problemen, die ihn seit einer Weile plagten. Aber gerade in letzter Zeit hatte ich so sehr das Gefühl, es ging ihm besser. Sein Tod kam völlig überraschend für mich. Zu realisieren, dass er nun für immer weg war, gelang mir nicht. Natürlich wusste ich es mit meinem Verstand. Aber Herz und Gefühl verweigerten die Annahme dieser Realität.
Ich fühlte mich betäubt und seltsam gefühllos. Wo waren Schmerz und Traurigkeit, fragte ich mich. Ich dachte, ich liebe ihn? Warum geht dann alles hier nun einfach weiter - warum mache ich einfach weiter? Wie kann das sein? Mein Körper schien den Schmerz für mich auszudrücken. Mir war einfach nur hundeübel, mein Magen rebellierte und alles tat weh.
Manchmal, wenn ich alleine war, war es, als würde sich in mir eine Türe einen Spaltbreit öffnen. Dann schrie mir die Realität ins Gesicht und brachte eine solche Flutwelle aus Schmerz und Verzweiflung mit, dass es mir den Atem verschlug. Doch diese Intervalle waren zu Beginn kurz.
Es war eine kluge Vorgehensweise meiner Seele, mich für eine erste Zeit in neblige Watte zu packen und mich den gewaltigen Schmerz nur in homöopathischen Dosen spüren zu lassen.
Wie sehr meine positiven Lebensgefühle mit Michael verknüpft waren, erlebte ich nun direkt und sehr deutlich. Mit ihm verschwanden Freude und Motivation aus meinem Leben. Natürlich versuchte ich dagegen anzugehen - ich wollte das nicht und war mir sicher, dass auch Michael das nie gewollt hätte - doch es gelang mir nicht. Alles erschien mir sinnlos und irgendwie unwirklich.
Ein Gefühl kristallisierte sich als erstes klar aus dem Gefühlschaos in mir heraus: Reue. Zu spät! Ich werde Michael niemals begegnen. Ich bereute unendlich, so unentschlossen gewesen zu sein und schimpfte mich feige. Ich hatte einen Fehler begangen! Hatte alles auf „irgendwann später“ verschoben. Und nun war es zu spät.
Tagsüber erledigte ich meine Dinge - das ging gut. Ich erledigte sogar sehr viel! Ging neues an, machte das Interview, überlegte mir neue Projekte, suchte mir etwas, das mir Freude macht …. was mir erstaunlicherweise das ein und andere Mal auch gelang. Immer auch mit den Gedanken: „Nichts was du für mich getan hast, wird umsonst gewesen sein, Michael! Wir haben beide intensiv an meinem Wachstum gearbeitet und dabei so vieles erreicht; ich werde nun nicht hier stehenbleiben, oder zurückfallen. Das werde ich nicht!“
Doch in den ruhigen Stunden, wenn gar nichts zu tun war, kamen die Gefühle und der Schmerz. Ich wich dem nicht aus, suchte die Stille sogar. Denn ich wollte Michael spüren; unsere Beziehung und meine Liebe zu ihm spüren. Also las ich immer wieder in unseren Texten und versank.
Manchmal weinte ich so sehr, dass ich dachte, niemals wieder damit aufhören zu können. Und manchesmal war der Schmerz so groß, dass ich meinte, jetzt würde er mich einfach in Stücke reißen.
Ich las, was wir über Freude geschrieben hatten und über das Loslassen. Damals, als Michael mir die Geschichte von Gerda schickte. Ich erinnerte mich gut an unsere damalige Unterhaltung.
Die Tränen bei Gerda waren berechtigt. Doch irgendwann muss man wieder loslassen und sich an der Schönheit dieser Gefühle erfreuen, statt die Kürze der "Beziehung" zu beklagen.
Ja, ich wusste, er hatte recht. Nur so konnte das Schöne, was erlebt wurde, in einem lebendig bleiben.
Ich versuchte also das Schöne zu erinnern, ohne allzu sehr in schmerzhaftes Vermissen zu fallen. Es gelang mir nicht. Ich pendelte hin und her zwischen Ablenkung und Schmerz.
Wie oft hatte ich mir gewünscht und auch vorgestellt, eines Tages zu Michael zu fahren. Ihn in seinem Zuhause zu besuchen. In mir reifte der Entschluss, genau dies jetzt zu tun. Auch wenn es nun zu spät war und ich ihn nicht mehr antreffen würde, so würde ich den Ort sehen, an dem er gelebt hatte. Ein bisschen war es eben doch ein Besuch. Und mehr war nun einfach nicht mehr möglich.
Ja, ich würde fahren.
Drei Monate nach Michaels Tod buchte ich ein Appartement in der Nähe seines Zuhauses und fuhr los.
Aufgeregt und erschöpft trug ich meinen Koffer die Holztreppe hinauf. Die Fahrt hatte gute fünf Stunden gedauert und nun war ich hier - am Chiemsee. Trotz allem wollte ich diese Reise auch genießen, so gut es eben ging. Schließlich war diese Gegend wunderschön.
Schon während der Fahrt wurde mir bewusst, wie viel sicherer ich inzwischen geworden war, seit meiner ersten Reise auf die Reichenau. Allerdings spürte ich mit jedem Kilometer, den ich voran kam, deutlicher, wie sehr Michael mir fehlte. Gerade auch auf meinen Reisen, die ich in den letzten Jahren unternommen hatte, wenn ich aus dem Alltag heraustrat, hatte ich mich ihm besonders nah gefühlt.
„Nun bin ich tatsächlich unterwegs zu dir - und du wirst nicht mehr da sein, wenn ich ankomme“, sprach ich in Gedanken zu ihm. Wie verkehrt das alles war!
Ich bezog das Appartement, richtete mich ein und machte mich auf den Weg. Seine Adresse war mir bekannt, hin und wieder schickte Michael mir etwas oder ich ihm - und auch das Haus kannte ich von Fotos, die Michael mir gemailt hatte. Auch dass er allein lebte wusste ich.
Heute wollte ich nur erst einmal von weitem schauen.
Mein Herz klopfte. Ich stand auf einem schmalen Wiesenweg, etwa zweihundert Meter vom Haus entfernt. Hier also hatte Michael gelebt. Ich setzte mich an den Rand des Weges, direkt neben einer eingezäunten Weide. Neugierig kam eine der Kühe auf mich zu. Vermutlich wunderte sie sich über diesen seltsamen Menschen, der da auf ihrer Wiese saß und heulte. Nach einer Weile stand ich auf und ging zurück ins Appartement.
Für die Reise hatte ich mir keinen konkreten Plan gemacht. Ich wollte sehen, was sich zeigt und dem nachgehen, was ich spüre. Am Abend war klar - ich würde morgen Michaels Zuhause einen richtigen Besuch abstatten.