Als ich am nächsten Tag erwachte, war ich aufgeregt. Es mag verrückt klingen, aber es war mir, als hätte ich eine Verabredung mit Michael.

Ich duschte, machte mich hübsch und ging los.

 

Wenige Minuten später stand ich vor der Auffahrt. Schon wieder schlug mein Herz bis zum Hals, heftiger noch als am Tag zuvor. Zum Glück lag das Haus am Ende einer kaum befahrenen Straße. Eigentlich war es mehr ein Weg als eine Straße. Aber natürlich gab es Nachbarn. Was, wenn sie mich sehen, wie ich hier ums Haus streife? Durch die Einfahrt in den Garten gehe, auf dem Terrassenboden sitze - oder auf den Wegplatten am Boden seitlich des Hauses? Natürlich war mir deswegen unbehaglich zumute. Aber weit größer und stärker als diese kleinen Bedenken waren die Gefühle, nun hier zu sein - endlich hier zu sein; der Wunsch, Michael vielleicht irgendwo zu spüren, Spuren von ihm zu erhaschen ... Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort blieb. Aber während dieser Zeit wurde ich nicht gestört. Niemand fuhr auf der Straße, keiner der Nachbarn zeigte sich und auch sonst war kein Mensch in der Nähe. Es war, als hätte jemand die Welt für eine kleine Weile angehalten, um mir dieses eine Treffen mit Michael zu gewähren.

 

Langsam ging ich ums Haus, schaute alles genau an, sah seinen Kräutergarten, der inzwischen ein wenig verwildert war, entdeckte seine Rosen, von denen er hin und wieder erzählt hatte und die er so gern mochte, entdeckte das kleine japanische Ahornbäumchen, welches er im letzten Jahr neu pflanzte. Er hatte mir manche kleine Szenen aus seinem Leben geschildert; wie hin und wieder ein Reh nah an seine Terrasse kam oder  wie er im Wald sein Weihnachtsbäumchen schlug um es später auf der Terrasse leuchten zu lassen. Nun war ich hier und konnte mir selbst ein Bild machen von all dem, was er mir beschrieben hatte. Konnte sehen, wo sich das Reh wohl gezeigt hatte, sah den Wald und fühlte mich Michael ganz nah. Ich setzte mich ins Gras weinte, lachte, redete mit ihm und hatte das Gefühl, er sei hier, direkt neben mir, sah mich an und hörte mir zu.

War er noch einmal zurück gekommen?

Für mich, zu mir, zu unserem ersten und einzigen Treffen?

Hatte ich darum am Morgen das Gefühl gehabt zu einem Rendezvous aufzubrechen?

 

Auch wenn mein Verstand meint, das sei bloßes Wunschdenken, war sich mein Gefühl damals sicher: Ja, das war unser Treffen und zugleich ein Abschied für mich. Er ging nicht einfach so, sondern schenkte mir einen wirklichen Abschied.

Lange saß ich da, sprach mit ihm, spürte seine Nähe und fühlte mich gleichzeitig allein und unendlich traurig. 

 

Zum Grundstück gehörte auch ein kleiner, ziemlich verwilderter Teich zwischen hohen Bäumen. Die Nachbarn, die bereits begonnen hatten das Haus auszuräumen, hatten hier offensichtlich etliche von Michaels Topf- und Kübelpflanzen entsorgt. Ich wusste aus unseren Unterhaltungen, wie liebevoll er seine Pflanzen umsorgte. Sie nun hier aus den Töpfen gerissen und achtlos weggeworfen da liegen zu sehen, machte mich noch trauriger. Sie lagen sicher schon seit seinem Tod im März hier – sie sahen erfroren aus. Bei näherem Hinsehen entdeckte ich bei einer der Pflanzen kleine, dicke, frische Triebe. Sie lebte! Spontan kam mir der Gedanke, sie mitzunehmen. Ihr ein neues Zuhause zu geben - und so auch etwas von Michael mit mir nehmen zu können. Noch ein Geschenk!

 

Ich schaute mich um und überlegte, wie ich den Transport sicher gestalten könnte, fand aber nichts Passendes. Also ging ich rasch in den Ort, um einen Blumentopf zu kaufen. Mit Topf kehrte ich zum Teich zurück. Als ich die Pflanze vorsichtig hineinsetzen wollte, sah ich das Ameisennest zwischen ihren Wurzeln. So konnte ich sie auf keinen Fall mitnehmen! Ameisen wollte ich nicht bei mir auf dem Balkon haben und diese waren hier auch sehr viel besser aufgehoben als bei mir zuhause. Doch was tun? Mir kam eine Idee. Ich legte die Pflanze mit den Wurzeln so ins Wasser, sodass das Nest mitsamt allen Ameiseneiern komplett mit Wasser bedeckt war, zugleich aber auch ein Weg für die Ameisen blieb, um ihre Eier an Land in Sicherheit zu bringen.

Und genau das taten sie auch. Am Teichrand sitzend beobachtete ich ihren Umzug. Es sah aus wie eine Ameisen-Prozession. Das Ganze dauerte recht lange, doch ich hatte keine Eile. Geduldig wartete ich, bis die letzten Eier sicher an Land waren und alle Ameisen mit ihnen.

Ich nahm Topf und Pflanze, drehte mich noch einmal zum Haus um, sagte leise Adieu - ein richtiges Adieu - und ging zurück ins Appartement.

 

Dort betrachtete ich das Pflänzchen noch einmal genau. Hatte es genug Wasser und Wärme? Froh darüber, sie mitgenommen zu haben, hoffte ich, sie würde die für sie strapaziösen vergangenen Monate heil überstehen. Ich redete ihr zu und versprach, gut für sie zu sorgen.

Sie ist übrigens eine Canna und blüht inzwischen Jahr für Jahr auf meinem Balkon, ihrem jetzigen Zuhause.

Für mich ist sie eine große Freude. 

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