Liebe Lotte,
es ist mir schwer verständlich nicht ehrlich zu sich selbst zu sein. Ich akzeptiere auch, wenn jemand zwei "Wahrheiten" hat, eine für sich und eine für andere - obwohl das nicht einfach ist, weil man dann sehr konsequent lügen muss . So wie jedes Haus ein Fundament braucht, braucht jeder Mensch ein Fundament von Wahrheit.
Zum Foto-Projekt: Das "aktuelle" Heimatbuch von Deiner Stadt stammt aus dem Jahr 1928. Da könnte ein Bildband mit erklärenden Bildunterschriften direkt auf Nachfrage stoßen . Deshalb wäre ein kleines Bildkonzept für die Auswahl von Motiven sinnvoll.
Liebe Grüße, Michael
Lieber Michael,
ich weiß nicht, vielleicht verstehst du unter "ehrlich zu sich selbst zu sein" etwas anderes als ich? Ich kann natürlich nicht sagen wie es bei anderen ist, aber ich merke es meist nicht, wenn ich mich selbst belüge. Und das ist nun nicht gelogen.
Ich denke, ich beginne mich immer dann anzulügen, wenn ich etwas "finde" oder sehe (in mir), dass ich absolut nicht akzeptieren will oder kann, und gleichzeitig aber auch keinen Weg sehe, daran etwas zu ändern. Dann kann ich das nur noch so nach hinten schieben, dass ich es selbst nicht mehr bemerken muss, sonst wäre es auf Dauer nicht auszuhalten. Sobald ich es aber so verschoben habe, dass ich es nicht bemerken muss – ist es so weg, dass ich es doch gar nicht mehr als Selbstlügen enttarnen kann!? Und auch das Verschieben geht - zumindest bei mir - so blitzschnell oder automatisch, dass ich es nicht immer bewusst bemerke. Ich hoffe, das ist einigermaßen verständlich ausgedrückt.
Heute bei meiner Ordnungs-Halben-Stunde habe ich aber schon bemerkt, dass ich selbst diese kleine Aufgabe nur darum wirklich durchziehe, weil Du davon weißt und mir helfen willst. Also eigentlich eher für Dich als für mich . Dass das dumm ist, ist mir klar, aber es ist so. Für mich allein würde ich es nicht tun. Da ich aber keine Ahnung habe warum das so ist, kann ich daran auch nichts ändern. Würden wir uns in letzter Zeit nicht häufig über solche Dinge unterhalten, würde ich auch dies nicht wirklich offen zur Kenntnis nehmen, würde es nicht bemerken.
Es ist also nicht so, dass ich unehrlich sein will; auch nicht zu mir selbst.
Zum Heimatbuch: Was könnte so ein Bildkonzept sein? Ich habe von so etwas keine Ahnung, werde mich aber daran versuchen.
Einen lieben Gruß
Lotte
Ich glaube ich beginne mich immer dann anzulügen, wenn ich etwas "finde" oder sehe (in mir), dass ich absolut nicht akzeptieren will oder kann ...
Natürlich ist es genauso wie Du sagst, liebe Lotte!
Das ist der gebräuchliche Mechanismus und genau den muss man durchbrechen!
In meiner Unfallzeit nahm ich mich mal beiseite und sagte zu mir: „Freund (also nicht aggressiv!), lass uns mal nachdenken, wie das passieren konnte“. Ich zählte mir Gründe auf und sagte dann immer wieder zu mir: „Freund, mein Gefühl sagt mir, das war noch nicht alles“. Und so weiter; es war ein richtiges Entblättern, bis sich der Kern der Wahrheit herausschälte. Dieses „Gefühl“ (das manche auch Gewissen nennen) ist die Instanz!
Heute habe ich schon bemerkt, dass ich selbst diese kleinen Aufgaben nicht tun würde, hätte ich sie für mich allein ausgewählt. Ich weiß, ich mache das nun richtig, weil du davon weißt, mir hilfst. Also eigentlich eher für dich als für mich
Ja, ich weiß, dass es so ist! Aber allein für diese Selbsterkenntnis gebührt Dir höchstes Lob! Ein Mensch mit zu geringem Selbstbewusstsein und zu wenig Eigenliebe und der Überzeugung ohnehin nicht viel wert zu sein , braucht (vorerst) das Gefühl etwas für jemanden zu tun, der es wert scheint (auch wenn ein Tun nur dem eigenen Wohl dient und der „andere“ gar nichts davon haben kann).
Ich sage es mit aller Vorsicht, es hat auch damit zu tun, dass man geliebt werden will - in diesem Fall so wie ein Kind, das endlich sein Zimmer aufräumt, weil dann die Chance besteht, mit positiven Gefühlen beschenkt zu werden.
Liebe Grüße, Michael
Was Michael beschrieb berührte mich tief. Einerseits gefiel es mir kein bisschen, mit einem Kind verglichen zu werden – das gelobt und geliebt werden will. Es machte mich auf eine Weise bedürftig und klein, die ich nur schwer aushalten konnte und Michael war ganz sicher der Allerletzte, vor dem ich mich so zeigen wollte! Aber ich spürte auch sehr genau wie richtig er lag. Andererseits taten mir seine Worte auch gut. Wie sehr er mich und meine innersten Gefühle verstand und sie so klar und auf den Punkt aussprechen konnte!
Lieber Michael,
was Du beschreibst, geliebt werden zu wollen wie ein Kind …. – das ist die Beschreibung für einen ziemlich unreifen Menschen. Ist das mit einer der Gründe, warum ich mich oft so abhängig von anderen Menschen fühle, von dem was sie wollen, nicht wollen und wie sie gelaunt sind?
Du wusstest vermutlich schon lange vor mir, dass ich die Dinge für Dich tue.
Wie kommt es, dass Du mich so viel besser einschätzen kannst als die Menschen um mich herum, mit denen ich zusammenlebe, und so viel besser als ich mich selbst?
Sehr liebe Grüße von Lotte
Liebe Lotte,
sicher weißt Du, dass ich Dich damit nicht kränken will (unreifer Mensch). Tatsache ist, dass die meisten Menschen nicht erwachsen werden. Die Abhängigkeit, die Du ansprichst, ist eine logische Folge davon.
Dein Verhalten einzuschätzen ist keine Hellseherei, sondern Menschenkenntnis.
Es ist so selten nicht. Und nach der inzwischen schon etwas längeren Unterhaltung kann ich ein wenig erkennen, was Dich an- und umtreibt. Und es ist (für Dich) erheblich besser, Du tust etwas mir zuliebe, als Du tust es nicht. Ich habe kein Problem damit .
Die Menschen, mit denen Du zusammen lebst waren bei aller Intimität nie in einem derart "intimen" Gespräch wie wir, deshalb wissen sie weniger. Da der Umgang mit Gefühlen aber nach Deinen Erzählungen ohnehin schwierig ist, würde ein solches Gespräch auch nicht stattfinden können.
Liebe Grüße, Michael
Inzwischen hatte ich mich auch an einer Einteilung für das Heimatbuch versucht und schickte sie an Michael. Seine Antwort darauf war:
… dass es ihm gut gefiele – und dass ich – abgesehen davon, dass es Spaß machen solle – im Hinterkopf daran denken solle, was Einwohner und Verantwortliche an Motiven erwarten würden. Das spiele für einen möglichen Erfolg eine gewisse Rolle. Je mehr es mir dazu aber gelänge, „mein Neckarsulm“ und die von mir entdeckten Schönheiten abzubilden, umso mehr bekäme das Ganze meine Handschrift. …
und damit war der Grundstein für ein über Jahre andauerndes Projekt gelegt, das mit mir gemeinsam wuchs und sich auch heute noch auf spannende Weise weiterentwickelt.
Natürlich begleitete Michael mich auch hierbei und so hatten wir bald einen weiteren „Mail-Strang“ zu unserem bisherigen Gespräch. Das Projekt forderte mich, lockte aber auch etwas hervor, von dem ich dachte, ich besäße es nicht: Kreativität. Diese Art zu arbeiten war mir bis dahin unbekannt und ich empfand sie als zutiefst erfüllend. All das zeigte sich aber erst später. Hier, zu Beginn, ging es zuerst einmal nur darum, die allerersten Schritte zu wagen: Mir erste Gedanken zum Projekt machen und auch mit den Fotos zu beginnen.
Weiter ging es auch mit unserem Thema „Persönlichkeitsentwicklung“, in dem ich ja mitten drinnen steckte. Bevor ich Michael kennen lernte hatte ich mich etwas über zwölf Jahre lang sehr intensiv mit dem Buddhismus beschäftigt. Zu Beginn eher allgemein, mit der Zeit differenzierter und tiefer. Im Buddhismus gibt es verschiedene Strömungen, sogenannte „Schulen“, welche unterschiedliche Sichtweisen haben. Ich widmete mich jener Schule, die ein „Ich“ und „Selbst“ völlig verneinte. In dieser ging es nicht darum, ein ungesund aufgeblähtes Ego zu enttarnen und die Verwandlung, Veränderung von allem zu erkennen, sondern sie propagierte, dass da letztendlich „Nichts“ sei. Nirwana - das „Erlöschen“ - als anzustrebendes Ziel. Monat für Monat bekam ich Schriften von einem buddhistischen Freundeskreis, die sich genau hierum drehten.
Schon über längere Zeit - auch vor meinen Gesprächen mit Michael - hatte ich kein gutes Gefühl mehr beim Lesen dieser Texte. Ich kämpfte mit dem Inhalt, speziell mit diesem Punkt des Erlöschens. Wie sollte ich so etwas anstreben wollen? Alles in mir sperrte sich dagegen, ein vollständiges Erlöschen meines Selbst auch noch aktiv zu wollen. Es fühlte sich vernichtend an. Bisher aber dachte ich, das sei vermutlich so, weil ich eben noch zu viel am Da-Sein „anhaften würde“. So wurde es ja auch stets in den Schriften beschrieben.
Seitdem ich aber nun mit Michael schrieb wurde mir zunehmend klarer, dass ich mich da wohl in etwas verrannt oder grundlegend missverstanden hatte. Nichts von dem, über das wir uns unterhielten, vertrug sich mit diesen Texten. Und alles was wir schrieben fühlte sich für mich zutiefst richtig und stimmig an. Ich steckte in einem Dilemma. Also schickte ich Michael einige Auszüge dieser Monatshefte und fragte nach seiner Meinung dazu.
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